Aber sprechen Mose und die Propheten wirklich von Jesus? Konnten sie wissen, wie der Wanderprediger aus Nazareth viele Jahrhunderte nach ihnen leben, leiden und sterben würde? Konnten sie vorhersagen, dass Gott ihn auferwecken würde aus dem Tod? Immer wieder greifen alle vier Evangelien zur Bibel, um begreiflich zu machen, was es mit diesem Jesus auf sich hat, oft mit der Formel: „So hat sich erfüllt, was in der Schrift geschrieben steht ...“
Das zeigt zuallererst: Die Jüngerinnen und Jünger, die nach Ostern von Jesus erzählten, und auch diejenigen, die diese Worte und Geschichten später aufschrieben, waren Menschen, die ihre Bibel in- und auswendig kannten. Sie lasen darin, hörten sie in den Gottesdiensten und verstanden sie als „Worte des lebendigen Gottes“. Was wir heute „Altes Testament“ nennen, war ihre Heilige Schrift – ein „Neues Testament“ gab es ja noch nicht, allenfalls war es gerade im Entstehen begriffen. Und genau dabei waren die alten Schriften ganz wichtig!
Raum für Erfahrungen
Zwei Menschen, die sich lieben, suchen nach Worten, wie sie sich das sagen können. Das ist gar nicht so leicht. Die Worte sollen ehrlich sein und persönliche Gefühle ausdrücken. Dafür eignen sich auch Liebeslieder oder Gedichte. Diese Zeilen sind zu einer anderen Zeit und für eine andere Person gedacht und geschrieben worden. Kann das trotzdem „meine“ Liebeserklärung sein? Manchmal ist das so. Dann stellt sich beim Lesen oder beim Hören das Gefühl ein: Ja, genau so ist es! Und vielleicht bringen die fremden Worte sogar genau auf den Punkt, wofür einem selbst die Worte fehlten. Zugleich lassen sie sich ganz neu begreifen, weil in ihnen jetzt eigene Erfahrungen „mitschwingen“.
Ganz ähnlich muss es den Jüngerinnen und Jüngern nach Ostern gegangen sein. Sie suchten nach Worten, um zu erzählen, wer dieser Jesus war und warum er so besonders war. Sie versuchten damit umzugehen, dass dieser Jesus grausam hingerichtet und ermordet worden war. Und sie rangen um Worte, um zu sagen, dass sie ihn trotzdem als den Lebendigen erfahren hatten, weil Gott ihn nicht im Tod gelassen hatte. Das sind alles Erfahrungen, die mindestens so schwer auszudrücken sind wie ein Liebesbekenntnis. Und manchmal können wir im Neuen Testament noch Spuren dieses Ringens um Worte finden.
Eine Spur ist das prophetische Bild des Friedenskönigs, der auf einem Esel geritten kommt (Sach 9,9). Hier fanden die Jüngerinnen und Jünger ihre Erfahrungen mit Jesus wieder: ein Gerechter und ein Helfer, arm und trotzdem königlich. Natürlich war ihnen dabei auch schon bewusst, dass der Prophet Sacharja einen anderen Friedens-König vor Augen gehabt hatte. Aber „die Schrift wächst mit den Lesenden“ (Papst Gregor der Große): Jede Zeit, jede Leserin und jeder Leser nimmt die Worte anders wahr, liest mit der Schrift die eigene Lebenserfahrung und Gotteserfahrung und bringt beides miteinander in Einklang.
Einen Sinn finden
In den Passionserzählungen verdichten sich die biblischen Zitate; allein im Johannes-Evangelium werden viermal Stellen aus der Schrift mit der Formel verbunden: „Damit sich die Schrift erfüllte ...“ Nachvollziehbar wird das, wenn ich mir die Erfahrungen vor Augen halte, die die Jüngerinnen und Jünger gemacht hatten: Wie sollten sie mit der traumatischen Erfahrung umgehen, dass Jesus, verhaftet und verurteilt, einen grausamen Tod gestorben war? Sprach die Hinrichtung wie ein Verbrecher nicht gegen alle Ansprüche, dass dieser Jesus ein König gewesen sei, der Gesalbte Gottes? Wie soll man das begreifen? Wie kann man darin einen Sinn finden?
Auch hier hören die Evangelisten aufmerksam auf die Worte der Heiligen Schrift. Sie entdecken dort das Schicksal von Jesus wieder – und sie finden Deutungen dafür. Zum Beispiel, wenn beim Propheten Jesaja im „Lied vom Gottesknecht“ von jemandem die Rede ist, der buchstäblich zum Prügelknaben für andere wird: „Ein Mann voller Schmerzen“. Doch dieses Leiden ist nicht vergeblich; es kommt aus tiefer Solidarität mit den Mitmenschen: „Aber er hat unsere Krankheiten getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen ... durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,3–5).
Das eröffnet für sie – und für uns heute – einen Deutungshorizont auch für das Schicksal von Jesus: Sein Tod war nicht sinnlos. Er hat ihn auf sich genommen, damit wir leben können. Das ist mit dem Verstand nicht zu begreifen – aber mit dem Lied des Propheten Jesaja öffnet sich vielleicht die Tür des Verstehens einen Spalt weit.
„Gemäß der Schrift“
Und gerade die unglaubliche Geschichte vom Messias, der den Verbrechertod stirbt und von Gott wieder zum Leben auferweckt wird, gewinnt aus dieser Verwobenheit mit der Heiligen Schrift Autorität: Das alles findet sich doch schon in der Bibel! Die Propheten haben es so erlebt, Jona hat es in die tiefsten Tiefen geschleudert, die Beterinnen und Beter der Psalmen haben ihre Verlassenheit Gott ins Gesicht geschrien. Wie ein roter Faden zieht sich das durch die Schrift. Jesus liegt ganz auf dieser Linie. Aber nicht nur mit seinem Sterben – auch in seinem Leben sehen die Jüngerinnen und Jünger Verbindungen zu ihrer Heiligen Schrift. War es nicht wie bei Mose am Sinai, als Jesus die Bergpredigt hielt und die Gebote neu erklärte? War es nicht wie beim Propheten Elija, als so viele Menschen satt wurden und noch Brot im Überfluss da war? Gerade in der Zeit, in der das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus – dem Gesalbten Gottes – zum Konflikt innerhalb der jüdischen Gemeinden führt, wird es besonders wichtig, diesen roten Faden herauszuarbeiten: Jesus steht nicht im Widerspruch zur Schrift, im Gegenteil. In ihm „erfüllt sich“ die Schrift!
Erfüllt und abgehakt?
Wiederum ist hier die Leserichtung wichtig. Liest man die Bibel von vorn nach hinten, so sprechen die Geschichten, Lieder und Gebete erst einmal für sich, in ihrem Kontext, in ihrer Zeit. Aber wer das Jesus-Zeugnis des Neuen Testaments kennt, liest dieselben Geschichten noch einmal neu: Sie werden für die, die an ihn glauben, durchscheinend auf Jesus hin.
Von Jesus her lesen wir Christinnen und Christen die Bibel anders. Sie bleibt aber zugleich immer die Heilige Schrift der jüdischen Glaubensgemeinschaft, die sie anders liest. Für Jüdinnen und Juden erfüllt sich die Schrift eben nicht in Jesus von Nazareth – und auch wir Christinnen und Christen müssen ja zugeben: Viele der biblischen Verheißungen stehen noch aus! Schwerter zu Pflugscharen, kein Hunger und keine Gewalt mehr, und alle Tränen getrocknet – das steht noch aus. Aber „erfüllt“ heißt ja nicht „erledigt“ oder „abgehakt“. Das griechische Wort bedeutet eher: „zum Ziel gekommen“.
Das ist es, was die Evangelisten von Jesus glauben: In ihm hat Gott noch einmal und endgültig sein Wort gegeben. Die Jesus-Geschichten des Neuen Testaments sind „Spiegelgeschichten für heute“ (Wilhelm Bruners). In ihnen spiegelt sich die ganze Gotteserfahrung des ersten Teils der Bibel. In ihnen spiegelt sich aber auch unsere Lebens- und Glaubenserfahrung, bis sie zu unseren Geschichten werden. Immer wieder aufs Neue!
Die Autorin Ursula Silber ist Rektorin des Martinushauses Aschaffenburg und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Bibelpastoral in der Diözese Würzburg.
Zum Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ veröffentlicht das Sonntagsblatt unter dem Titel „Jüdisch – christlich – geschwisterlich“ Artikel in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Bibelpastoral in der Diözese Würzburg. Die Texte beleuchten antijüdische Klischees oder Vorurteile aus biblischer Sicht, um Perspektiven für die Zukunft aufzuzeigen. Mehr Infos zum Festjahr online unter „2021jlid.de“ und „www.juedisch-beziehungsweise-christlich.de“.